Sozialdemokratie reloaded

Martin Schulz, Spitzenkandidat der Europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten, warnt vor den Gefahren der Digitalisierung. Im Kampf gegen einen digitalen Totalitarismus erhebt er die Sozialdemokratie zur Speerspitze. Dabei adaptiert er die klassischen liberalen Abwehrrechte, vergisst aber die ureigensten sozialdemokratischen Herausforderungen

Martin Schulz will Ralf Dahrendorfs These widerlegen, wonach die Sozialdemokratie Ende des 20. Jh.s ihre historische Aufgabe von Freiheit, Gleichheit und Solidarität erfüllt habe und damit nicht mehr gebraucht werde. Schulz stimmt zu, dass „die heutigen Arbeitsbedingungen der meisten Arbeitnehmer in Europa vergleichsweise paradiesisch“ anmuten würden im Vergleich zu den sozialdemokratischen Herausforderungen im 19. Jh. Jedoch sieht er die Digitalisierung aller Lebensbereiche als ebensolche umwälzende Herausforderung wie vor 150 Jahren die Industrialisierung, weshalb die Sozialdemokratie sich eben nicht historisch überlebt hätte. Soweit, so einverstanden. Doch nach dieser Feststellung schaut Schulz durch eine fremde Brille. Er sieht die Gefahren von Big Data und Big Government für das Individuum. Der Mensch werde von den zwei Polen – „der gewaltigen Sammelleidenschaft für Daten durch Private und den Staat“ und „der hysterischen Überhöhung von Sicherheit“ – bedroht. Die ubiquitäre datenmäßige Quantifizierung des Einzelnen könnte in die „antiliberale, anti-soziale und antidemokratische Gesellschaft münden“. Soweit, so bekannt. Und unbestritten. Die Abwehr dieses Szenarios sieht Schulz als neue Herausforderung der Sozialdemokratie.

„Deshalb wird eine soziale Bewegung gebraucht, die den Mut aufbringt, das Notwendige zu tun, und die dafür notwendigen normativen und historischen Prägungen mitbringt. Wie am Ende des 19. Jh.s wird eine Bewegung gebraucht, die die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt und die nicht zulässt, dass der Mensch zum bloßen Objekt degeneriert.“

Die normative und historische Prägung scheint schon recht abgeschliffen, wenn man bedenkt, dass Schulz in dem eine ganze Seite füllenden Artikel zwar vieles zum Thema Datenschutz, Schutz der Privatsphäre und ubiquitäre Überwachung zu sagen hat, rein gar nichts aber zu dem Aspekt der eben sehr wohl – entgegen Schulz‘ Ansicht – von der Digitalisierung herausgeforderten Arbeitswelt: die Ausweitung der Automation. Zur Illustration das nahe liegende Beispiel der Kassierer. Im smarten Supermarkt wird das Legen der Waren aufs Band und das Abrechnen überflüssig. Der Kunde legt die Waren in den smarten Einkaufswagen, diese werden erfasst, verrechnet und am Ende des Einkaufs wird der offene Betrag per Smartphone beglichen. – Einen schaurig-schönen Ausblick auf eine gar nicht mehr allzu ferne Zukunft, in der Sportnachrichten-Redakteure oder Übersetzer überflüssig werden, gab Frank Rieger 2012. – Ein weiteres, einschneidendes Bsp. ist der militärische Komplex – die USA haben bereits mehr Drohnen als bemannte Flugzeuge.
In dem Maße, wie die Automation immer neue menschliche Arbeitsfelder erfassen wird, und so immer mehr menschliche Arbeitskraft obsolet werden lässt, führt die Digitalisierung analog der Industrialisierung zu einer Prekarisierung breiter Schichten, um Schulz‘ Worte aufzugreifen. Das ist die sozialdemokratische Herausforderung, die Schulz offensichtlich aus den Augen verloren oder überhaupt nicht im Blick hat. Was tun mit all den überflüssigen Menschen?

Es ist Europawahlkampf. Und die Sozialdemokraten könnten leicht die jetzt schon Prekären für sich und damit die Wahl gewinnen, wenn sie auf dem vor 150 Jahren eingeschlagenen Weg tatsächlich für soziale Gerechtigkeit kämpfen würden. Die Digitalisierung führt so gesehen nur zu einer weiteren Verschärfung des alten Problems, das mit der Industrialisierung begann. Das Heer des Prekariats wird noch größer.