Frenetischer Beifall schlägt ihm entgegen als er die Bühne betritt. Spöttisch winkt er ab, für so was hätten wir keine Zeit. Zu dringlich das, was er auf der Internetkonferenz republica zu sagen hat. Zygmunt Bauman ist gekommen, um den zumeist jungen Zuschauern vor Augen zu führen, was der Preis für ihre Sehnsucht nach digitaler Sichtbarkeit und Anerkennung sei.
Der fast 90jährige Sozialphilosoph stellt fest, dass ihn und sein Publikum nicht nur Lebensjahrzehnte trennen, sondern viel grundsätzlicher das Weltbild. Während seine Generation, als sie im gleichen Alter wie die Zuhörer war, vom privat sein träumte, würden sie heutzutage vom öffentlich sein träumen. „Instead of dreaming of privacy, we dream of publicity.“
Instead of dreaming of privacy, we dream of publicity.
Privat sein, das hätte mal bedeutet „für sich sein“, „abgeschieden sein“ und vor allem „unbeobachtet sein“. Diese Bedeutungen würde man heute gar nicht mehr begreifen. Heutzutage würde privat sein gleichgesetzt mit „allein sein“, „abseits sein“, „ausgestoßen sein“. Die Generation Selfie suche mithilfe ihrer elektronischen Gadgets – Spielzeuge, so nennt Bauman die Taschencomputer durchweg -, die Erfüllung ihrer Sehnsucht nach permanenter Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit. Rund um die Uhr und überall. Die sozialen Medien dienen als Verstärker qua Likes, Followers, Retweets – Begriffe mit denen der älteste Teilnehmer der republica spielend umgeht. Bauman illustriert dies am Begriff der „celebrity“ als typischer Sozialfigur der Generation Selfie. „A celebrity is a person who is known for being well known.“ Die celebrity gilt als berühmt dafür, dass sie sehr berühmt ist. Ruhm und Helden im alten Sinne hingegen gibt es nicht mehr („fame“, „hero“). Die celebrity zeichnet nichts als ihre Berühmtheit aus. (Anm. d. Verf.: Als Paradebeispiel hätte Bauman Kim Kardashian anführen können mit ihren aktuell rund 32 Millionen Followern bei Instagram und 31,7 Millionen bei Twitter. Kim Kardashian, berühmt. – Johanna Adorján hat dies sehr treffend in ihrer Besprechung von Kardashians Buch Selfish in der FAS vom 10. Mai beschrieben.- Das Buch steht bei Amazon in der Kategorie Themen und Motive in der Fotografie aktuell auf Platz 1 der Bestseller-Liste. )
Kim Kardashian, berühmt.
Bauman verurteilt dieses neue Sozialverhalten nicht. Der Gestus des Kulturkritikers liegt ihm fern. Der alte lebenserfahrene Mann möchte seine jungen Zuhörer nur dafür sensibilisieren, dass sie ihre Bedeutung durch Sichtbarkeit mit dem Preis der Datenpreisgabe bezahlen. Und bezahlen ist in diesem Zusammenhang nicht mal richtig, nein, sie verschenken sich gar. Sie verschenken ihr Kostbarstes. In diese Kritik der selbstverschuldeten digitalen Massenüberwachung mündet seine Rede.
Wie schon am Tag zuvor der Science-Fiction-Autor Cory Doctorow von der Electronic Frontier Foundation, beschreibt Bauman die aktuelle Lage als totalitäres Schlaraffenland, das sich Stasi und andere Geheimdienste früherer Tage nicht hätten träumen lassen. Nicht länger müssten die Geheimdienste aufwändige und kostspielige Überwachungssysteme errichten, die Benutzer der elektronischen Gadgets fertigen ihr vollständiges Profil gleich selber an. Doctorow beschrieb ein mögliches zukünftiges Szenario in Anlehnung an die reale Erfahrung von Majdan-Aktivisten, die auf dem Heimweg auf ihr Handy die Benachrichtigung erhielten, sich besser vom Majdan fern zu halten. In Zukunft würde man, so Doctorow, nach der Teilnahme an einer nicht tolerierten Veranstaltung vielleicht die Benachrichtigung erhalten „Sie haben daran teilgenommen, deshalb drehen wir Ihnen für heute Nacht die Heizung ab“.
Sie haben daran teilgenommen, deshalb drehen wir Ihnen für heute Nacht die Heizung ab.
Beim gegenwärtigen Trend zu vernetzten, fernsteuerbaren Smart Houses mutet das nicht nach allzu ferner Science-Fiction an. Bei Bauman wiederum, der die Sowjetunion und das sozialistische Polen erlebt hat und 1945-1948 als Agent des Militärischen Informationsdienstes gearbeitet hat, erhält die gleiche Lagebeschreibung gleichsam eine historische Legitimation.
Das nicht nur bei Bauman, sondern auf dieser republica immer wieder verwendete Symbol für den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Zustand bildet das Panoptikum. Populär geworden insbesondere durch die Arbeiten von Michel Foucault, geht es um eine zuerst wohl vom britischen Philosophen Jeremy Bentham Ende des 18. Jh.s entwickelte Überwachungs-architektur, in der um einen zentralen Turm in der Mitte herum kreisförmig Zellen eingerichtet sind. Die Zellen sind zum Turm hin offen, können vom Wächter im Turm jederzeit eingesehen werden. Gleichzeitig können die Insassen nicht sehen, wann sie vom Wächter beobachtet werden und fühlen sich so permanent überwacht. Diese Situation gelte auch online. Soweit, so bekannt. Doch wie dem elektronischen Panoptikum in unseren Hosentaschen praktisch entgegen zu wirken wäre, darüber gingen die Meinungen auf der republica auseinander.
Frank Rieger vom Chaos Computer Club etwa sprach sich dafür aus, dass es neben der viel zu kurz greifenden Regulierung der Erhebung von Daten auch einer Regulierung ihrer Verwendung bedürfe. Katarzyna Szymielewicz von der Panoptykon Foundation empfahl etwa, viele divergierende digitale Profile zu verwenden, um so die bspw. durch Versicherungs,- Gesundheits- und Konsumwirtschaft betriebene Reduktion auf ein digitales Profil statt des realen Selbst zu unterlaufen. Für Juni dieses Jahres kündigte der Menschenrechtsexperte Allon Bar eine Rangliste führender Informations- und Telekommunikationsunternehmen an, in der ihre Gewährleistung von Datenschutz und Privatsphäre bewertet würde. Bar verriet vorab schon soviel, dass von 100 möglichen Punkten das erstplatzierte Unternehmen auf 65 Punkte käme und das zweitplatzierte auf lediglich 48. Wie es dann wohl um den Schutz digitaler Bürgerrechte bei den dahinter platzierten Unternehmen bestellt sein mag, kann man sich ausmalen.
Von 100 möglichen Datenschutz-Punkten erreichte das bestplatzierte IKT-Unternehmen 65
Auf moderate Ansätze wollte sich Jérémie Zimmermann von der französischen digitalen Bürgerrechtsorganisation La Quadrature du Net denn auch nicht verlassen. Sein Ansatz war radikaler. Er zog einen Vergleich zum Film „Terminator“ von 1984. Aktuell befänden wir uns schon sehr genau in dem im Film beschriebenen Szenario des Jahres 2029. Zwar haben die Computer noch nicht die Kontrolle über uns übernommen, aber wir sind einer ubiquitären computergesteuerten Überwachung durch Behörden und Unternehmen ausgesetzt. „Wir müssen die Terminatoren in unseren Hosentaschen bekämpfen, bevor es zu spät ist“, schlussfolgerte Zimmermann.
Wir müssen die Terminatoren in unseren Hosentaschen bekämpfen, bevor es zu spät ist
Auf die konkreten Taktiken wollte sich Zimmermann nicht festlegen lassen, nachdem er zeigte, wie sich die Menschen im Film gegen das omnipotente Computernetzwerk Skynet wehrten. In der anschließenden Publikumsdiskussion zeigte er Verständnis dafür, wenn jemand versuchen würde, Whistleblower wie Chelsea Manning aus dem Gefängnis zu befreien. Vorrangiges Ziel für Zimmermann ist, dass das Wissen über die Technologien noch viel weiter in die Gesellschaft getragen werden müsse, es nicht eine Sache einiger informierter Hacker und Programmierer bleiben dürfe. Dafür bedürfe es einer neuen Erzählung („story“), eines neuen Memes, wie es im Internetsprech heißt, das sich – wiederum übers Netz – verbreitet, um überhaupt ein Bewusstsein für die digitalen Massenüberwachungswaffen zu schaffen.
Einen kleinen praktischen Ansatz stellte unter anderem der in Berlin lebende Offline-Künstler Aram Bartholl vor. Im Netz und auch in Workshops etwa auf vergangenen republicas gibt er Bastelanleitungen, um einen Beutel aus Abschirmvlies für das Smartphone und andere Taschenrechner zu nähen. Einmal in den Beutel hinein gesteckt, kann das Gerät weder Signale empfangen, noch senden. So ließe sich zumindest zeitweise wieder sicherstellen, was Zygmunt Bauman für so essentiell hält: Momente des Unbeobachtetseins. Freilich ließen sich so immer noch Bewegungen und Handlungen weiter verfolgen, sobald man das Gerät wieder aus dem Sack lässt. Doch würde das Profil lückenhafter.
Als „Panda“ wird in China ein Geheimdienstagent bezeichnet
Was die lebhaften und engagierten Debatten über Massenüberwachung und all die prominent besetzten Panels rund um Medienwirtschaft und ihren heiligen Gral BigData auf der diesjährigen republica mit dem Rahmenmotto „Finding Europe“ zu tun hatten, darauf konnte man sich vielleicht am ehesten noch einen Reim machen, als der Internetaktivist und IT-Spezialist Jacob Appelbaum einen noch nicht öffentlich gezeigten Kurzfilm der Filmemacherin Laura Poitras über sein Zusammentreffen mit Ai WeiWei in China vorstellte. Im Mittelpunkt des Films steht die Dokumentation der Kunstaktion „Panda to Panda“. Aus Plüschpandas entfernen WeiWei und Appelbaum die Füllmasse und ersetzen diese durch zerschredderte Dokumente aus den Enthüllungen von Edward Snowden. Appelbaum war seinerzeit von Poitras, an die sich Snowden zuerst gewandt hatte, für die Auswertung des Materials kontaktiert worden. WeiWei und Appelbaum versendeten die Pandas unter anderem an die Urheber der Dokumente zurück. Die Pointe: Als „Panda“ wird in China ein Geheimdienstagent bezeichnet; von Geheimdienst zu Geheimdienst also, so lässt sich die Aussage zusammenfassen. WeiWei, der China nicht verlassen kann, weil sein Pass eingezogen wurde, war in Berlin freilich nicht anwesend. Appelbaum wiederum lebt in Berlin, seitdem er sich durch die ersten Snowden-Enthüllungen in den USA nicht mehr sicher fühlte und den deutschen Datenschutz für besser erachtete. Die jüngsten Enthüllungen in der NSA-BND-Affäre lassen daran allerdings zweifeln.
Wenn die Suchaktion „Finding Europe“ auch kein Ergebnis zeitigte, so lieferte sie doch zumindest die Einsicht, dass das alte Europa sich kein zweites Mal leisten kann, selbstverschuldet in einen neuen Totalitarismus zu schlittern, nur weil der Weg dorthin mit so vielen schönen neuen digitalen Möglichkeiten gepflastert zu schein scheint. Dieser „Totalitarismus der Transparenz“, wie Zygmunt Bauman es nannte, würde Privatheit unmöglich machen. „Privatheit“ aber, so kann man ergänzen, steht semantisch heute dafür, was man früher einmal „Freiheit“ nannte. „We don’t have time“, jene Feststellung Baumans zu Beginn seines Vortrags, kann man schlussendlich als Appell verstehen. Fangen wir also in unseren Hosentaschen damit an?