Prism: Hannah Arendts Ochrana 2.0?

In ihrem Buch über Totalitarismus (dt. 1955) beschreibt Hannah Arendt, wie die zaristische Geheimpolizei Ochrana mithilfe einer gigantischen Wandkarte die Beziehungsgeflechte jedweden Bewohners Russlands vollständig abbilden wollte:

Es heißt, daß die zaristische Geheimpolizei, die Ochrana, ein besonderes Registrierverfahren erfunden hatte, wonach jeder in Rußland Verdächtige auf einer Riesenwandkarte durch einen roten Kreise, in dessen Mitte sein Name stand, vermerkt wurde. Kleinere rote Kreise, mit dem Kreis des Hauptverdächtigen verbunden, kennzeichneten seine politischen, grüne Kreise seine nichtpolitischen Bekannten und braune Kreise diejenigen Personen, die mit Freunden des Verdächtigen wiederum irgendeinen Kontakt hatten, ohne ihn persönlich zu kennen. Offensichtlich hat diese Methode, die gesamte Bevölkerung so zu katalogisieren, daß man nicht nur sie selbst, sondern auch die Erinnerung an sie absolut beherrscht, ihre Grenzen nur an der Größe der Wandkarte. Theoretisch wäre es durchaus denkbar, daß eine einzige solche Karte in riesenhaften Ausmaßen die Beziehungen und Querverbindungen der Bevölkerung eines ganzen Territoriums enthält. Und genau die entspricht dem Wunschtraum totalitärer Polizei. Sie hat den alten Traum der Polizei, dem noch der Lügendetektor dient, aufgegeben und versucht nicht mehr festzustellen, wer oder was einer ist und welche Gedanken in seinem Kopfe leben. (…) Dieser Traum war furchtbar genug und hat seit eh und je zur Tortur und zu den furchtbarsten Grausamkeiten geführt; er hatte nur eines für sich: er träumte etwas Unmögliches. Der moderne Traum der technisierten Polizei unter totalitären Bedingungen ist ungleich furchtbarer; sie träumt davon, mit einem Blick auf die Riesenkarte an der Bürowand ausfindig machen zu können, wer zu wem Beziehungen hat; und dieser Traum ist grundsätzlich nicht unerfüllbar, er ist nur etwas schwierig in seiner technischen Ausführbarkeit. (Arendt 1955, 686f.)

Ist dieser polizeiliche Traum durch soziale Netzwerke in (technisch) greifbare Nähe gerückt, oder sind die sozialen Netzwerke diesem Traum in die Nähe gerückt?

Max Schrems, der einer breiten Öffentlichkeit durch seine Dokumentation der von Facebook über ihn gesammelten Daten bekannt wurde, wies schon vor einiger Zeit darauf hin (FAZ 26.10.2011), dass Facebook nach eigenen Angaben regelmäßig Daten an amerikanische Behörden weitergeben müsse.

Auch unsere Behörden haben Begehrlichkeiten, denn woher bekommt man schon solch umfangreiche Datensätze von potentiellen Terroristen, Kriminellen, Randalierern und dem Rest der Bevölkerung? (Schrems, in: FAZ 26.10.2011)

Der von Arendt beschriebene Traum der Geheimpolizei erhielt dieser Tage einen für alle sichtbaren neuen Namen, „Prism“.